Die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs ist eine wesentliche Voraussetzung für die Einreichung einer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). 

Bedeutung der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs

Die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs bedeutet, dass Beschwerdeführer alle verfügbaren rechtlichen Mittel auf nationaler Ebene ausschöpfen müssen, bevor sie eine Beschwerde beim EGMR einreichen können. Dies dient dazu, sicherzustellen, dass nationale Gerichte die Gelegenheit haben, Menschenrechtsverletzungen zu überprüfen und zu korrigieren, bevor der EGMR in den Prozess eingreift. 

Der EGMR hat indes in bestimmten Fällen aufgrund außergewöhnlicher Umstände oder unzureichender nationaler Schutzmechanismen von der strikten Anwendung der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs abgewiechen. Es ist wichtig zu beachten, dass diese Fälle auf spezifischen Umständen basieren und nicht notwendigerweise als Präzedenzfälle für alle Situationen dienen.

Beispiele aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu außergewöhnlichen Umständen oder unzureichenden nationalen Schutzmechanismen, die eine Abweichung von einer strikten Anwendung der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs rechtfertigen können

Fallbeispiel 1: Soering gegen das Vereinigte Königreich (Urteil vom 7. Juli 1989) - Aktenzeichen: 14038/88:

Hintergrund: Der Beschwerdeführer, ein deutscher Staatsbürger, wurde vom Vereinigten Königreich an die Vereinigten Staaten ausgeliefert, wo er wegen Mordes angeklagt war. Er argumentierte, dass die Todesstrafe in den USA eine grausame und unmenschliche Behandlung darstelle.
Entscheidung des EGMR: Der Gerichtshof erklärte die Beschwerde für zulässig, obwohl der innerstaatliche Rechtsweg nicht vollständig erschöpft wurde. Der EGMR argumentierte, dass die außergewöhnlichen Umstände des Falles, insbesondere die drohende Todesstrafe, eine sofortige Intervention rechtfertigten.


Fallbeispiel 2: Akdivar und andere gegen die Türkei (Urteil vom 16. September 1996) - Aktenzeichen: 21893/93:

Hintergrund: Die Beschwerdeführer waren kurdische Bürger, die behaupteten, von türkischen Sicherheitskräften gefoltert worden zu sein. Sie hatten Beschwerden bei den nationalen Behörden eingereicht, aber die Ermittlungen wurden als unzureichend angesehen.
Entscheidung des EGMR: Der Gerichtshof erklärte die Beschwerde für zulässig und betonte, dass die Beschwerdeführer ihre Rechte nicht wirksam vor den nationalen Gerichten durchsetzen konnten. Der EGMR erkannte an, dass die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs in diesem Fall aufgrund der Unzulänglichkeiten im nationalen System nicht notwendig war.